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Leistadter Ortsvorsteher Axel Günther hält Rede zum Volkstrauertag 2023

Redetext zum Volkstrauertag 2023 von Ortsvorsteher Axel Günther

Auch in diesem Jahr begehen wir das Gedenken am Volkstrauertag an dieser Stelle, wo vor vielen Jahren von der Gemeinde ein schlichter Gedenkstein errichtet wurde, auf dem die Namen der gefallenen und vermissten Mitbürger
aus den zwei Weltkriegen verzeichnet sind. Wir denken uns – um des Ernstes dieses Gedenkens willen – die vielen Opfer hinzu, die das kriegerische Handeln auf allen Seiten hervorrief. Wir gedenken auch der Hinterbliebenen, die den Verlust ihrer Lieben auf beiden Seiten erleben und ertragen mussten. Im Erinnern an diese Grausamkeit der Kriege und mit dem Gelöbnis, dass Deutschland nie wieder Ausgangspunkt einer kriegerischen Aggression sein
darf, steht der Volkstrauertag unter dem Leitgedanken der Kriegsgräberfürsorge, eine „Versöhnung über den Gräbern“ herbeizuführen, um das friedliche Zusammenleben der Völker nach den beiden Kriegen zu ermöglichen.

Ich begrüße hier neben den Bürgern von Leistadt die Vertreter von Vereinen, die an dieser Stelle in besonderer Verbundenheit ihrer Vereinskameraden gedenken. Ich nenne da den Turnverein 1922 von Leistadt und mit Dank für
unsere musikalische Begleitung den Musikverein Leistadt, sowie ebenso dankend mit dem Vereinigten Sängerbund den ältesten der Leistadter Vereine, der hier von den Bäcker-Sängern verstärkt und unterstützt wird. Ich begrüße
auch Frau Pfarrerin Brake, die im Anschluss an die Kranzniederlegung noch einige geistliche Worte des Gedenkens anschließen wird. Vor einem Jahr musste ich an dieser Stelle auf die Tatsache blicken, dass es plötzlich wieder Krieg in Europa gab, einen aggressiven und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie er uns bis dahin unvorstellbar erschien.

Und dieser Krieg dauert mit einer völlig ungewissen Aussicht auf ein Ende an, hat seit unserer letzten Zusammenkunft zahllose Opfer und unsagbares Leid gefordert. Das hat uns verändert und vor veränderte Herausforderungen gestellt. Was wird angesichts solcher Gewalt aus unserem Versöhnungsgedanken, der uns hier zusammenbringt, was wird aus der Sehnsucht nach Frieden?

In diesem Jahr ist es noch einmal um andere Dimensionen schlimmer geworden

Seit nämlich die Hammas im Nahen Osten ein ungeheuerliches Massaker unter seinen Nachbarn anrichtete und sich ein kriegerischer Gewalt-Konflikt entzündete, der einem großen Pulverfass gleichkommt, ist die Welt ein weiteres Mal nicht wie vorher. Es wurde bald sichtbar, dass auch in der deutschen Öffentlichkeit ein furchtbarer Antisemitismus verbreitet ist und sich plötzlich unverblümt zeigt. Es spricht glücklich viel dafür, dass es sich hier wohl nicht um eine Mehrheit im Deutschen Volk handelt, aber es ist eine beängstigend große Zahl an Menschen, die im Zusammenhang von Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und Feindseligkeit gegenüber allen erdenklichen Minderheiten auffallen.

Beim Volkstrauertag richten wir einen Blick auf die Vergangenheit, auf das zur Trauer Anlass gebende Geschehen, den Tod und das Leid von Vorfahren, Verwandten und Mitbürgern, um daraus einen Blick in die Zukunft zu
gewinnen, der sich aus Hoffnung und Vernunft zusammensetzt, in denen das Vergangene verarbeitet wird. In solchem Zusammenhang wird auch von Erinnerungskultur gesprochen, weil dieser Begriff sich zusammensetzt aus dem Erinnern, das dem Vergessen entgegenwirkt und der Kultur, bei der es sich um die Erscheinungsform des menschlichen Daseins als Zusammensein handelt, die aus Erfahrungswerten und hierbei entstandenen Werten des Zusammenlebens besteht und den menschlich geprägten Gegensatz zur Natur ausmacht. Deshalb veranlasst uns der Blick auf die Gräuel der Kriege, die zudem von Deutschland ausgingen, zu einem zweiten Blick auf den aktuellen Zustand unserer Welt und einen Ausblick auf die Chancen und Möglichkeiten, die uns bleiben.

Die Toten, die wir betrauern, belehren uns um unserer Zukunft willen

Nach vielen Jahrzehnten Frieden in Europa ist unsere Zukunft wohl mehr in Gefahr, als wir uns vorstellen mögen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist vorbereitend auch eine Stellvertreterschlacht um den Platz der Atommacht
Russland in der Weltordnung; der vermeintlich regional kleine, doch umso gewaltsamere und brutale Konflikt in Gaza spaltet die ganze Welt, in der sich der Antisemitismus in immer neuen Gestalten ausbreitet und islamistisch
orientierte Machtinteressen, die in zahlreichen Staaten erheblichen Einfluss besitzen, ebenfalls eine bestimmende, zentrale Rolle in der künftigen Weltordnung beanspruchen. Die chinesischen Machtansprüche mit Bezug auf
Taiwan sind nur der Gipfel des Eisbergs, mit denen China letztlich die allgemeine Vorherrschaft in der Welt anstrebt. In allen diesen Konflikten ist das in Gefahr, was im alten Europa aus schwierigen Gewaltkonflikten als Demokratie hervorgegangen ist, das System unserer Freiheit.

Vernunft ist die abstrakte Fähigkeit des Menschen, unter Einsatz des Verstandes eigene und beobachtete Erfahrungen in Denkprozessen so zu verarbeiten, dass daraus allgemeine Regeln und Werte erwachsen können. Die Vernunft gebietet dabei am Ende von Hindernissen, die zu überwinden sind, allgemeinen Frieden, der nur in großer Toleranz bestehen kann. Aber diese aus  Vernunft geborenen Regeln werden immer wieder aus Machtinteressen gebrochen, mit lügenhaft verzerrten Geschichten verbogen und abgelenkt. Unsere moderne Welt ist so kompliziert und komplex, dass viele Menschen auf der Suche nach einfachen Wahrheiten verführbar sind, für einen scheinbaren und kurzfristigen Erfolg sich vor einen Karren spannen zu lassen, der sich im Ergebnis gegen ihre Interessen und ihre Freiheit richten wird. Diese Verführbarkeit ist kein Entschuldigungsgrund; das sogenannte Mitläufertum ist
vorwerfbar und nicht entschuldbar. Es ist leider zu sehen, dass immer mehr Menschen den großen Wert unserer Freiheit nicht mehr zu schätzen wissen und sich zumindest damit überfordert zeigen. Das macht mir große Sorge.

Das bedroht unsere Zukunft, weil wir unsere geistige Wehrhaftigkeit einbüßen können, auch die Bereitschaft, für das Gemeinwesen Leistung und Einsatz zu bringen, um es im Sinne der Freiheit zu erhalten. In den Kriegen, in denen unsere Mitbürger das Leben verloren, und was uns hier zusammenführt, entstand die jetzige Weltordnung, die sicher von der westlichen Vorstellung des Zusammenlebens der Völker geprägt ist und von dem Entwicklungsstand der Wirtschaft der westlichen Welt, der ganz wesentlich für die Umweltgefahren verantwortlich ist, denen die ganze Welt
ausgesetzt ist, die mehr der Umweltzerstörung als dem Schutz nacheifert.

Unser Reichtum schöpft sich immer noch zu einem großen Teil aus der Armut anderer

Nicht zuletzt deshalb erscheint unsere Wertvorstellung nicht überall auf der Welt vorbildlich, auch wenn es dort als wünschenswert erscheinen mag, so im Wohlstand zu leben, von dem Kuchen abzubekommen; das löst Migrationsströme aus, die bei vielen Menschen Ängste hervorrufen. Und das verleitet nicht selten dazu, sich der Verantwortung entziehen zu wollen, human mit diesem Zustand der Welt umgehen zu müssen. Auch hier bedroht uns
wieder der Wunsch nach einfacher Lösung, z.B. in Form von Härte gegen den anderen, Leugnen von Verantwortung bis hin zu Gewalt. Wenn wir stolz auf unsere Werte des Zusammenlebens sind, und das können und sollten wir zurecht sein, dann muss sich dieser Wert auch darin beweisen, wie wir mit den anderen umgehen und welche Opfer wir bereit sind, dafür zu bringen, dass überall auf der Welt mehr Chance für Freiheit und Gerechtigkeit entsteht. Sonst kann kein Friede werden. Unsere Vernunft lehrt uns bei der Versöhnung über den Gräbern also in hohem Maße anspruchsvolle, fordernde Sichten auf die Welt und Bereitschaften, verantwortlich mit unserer Freiheit umzugehen.

Es ist wohl leider wahr, dass wir kriegstüchtig werden müssen, so schrecklich dieser Begriff auch daherkommt. Aber die Welt steht am Rande katastrophaler Entwicklungen und das technische Vernichtungspotential, das sich die Menschheit geschaffen hat, ist unvorstellbar. Uns hilft hierbei nur nach außen die Fähigkeit, uns der Gewalt
entgegenzustellen und nach innen der feste Zusammenhalt untereinander, der Glaube an Errettung, was aber einen konsequenten Einsatz für die Freiheit genauso erfordert, wie engagiertes Auftreten, wo immer sich die grässliche
Fratze der Gewalt und des Missbrauchs zeigt, sei es in Form von Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit oder der Diskriminierung von Minderheiten. Diese Fratze ist das Gesicht unseres eigentlichen Untergangs,
wenn wir uns nicht wehren, sondern uns entmenschlichen lassen.

Wenn die Toten, um die wir hier trauern, uns um einer guten Zukunft willen den Vernunftsweg weisen, dann meint es das: Wir müssen wachsam sein gegen die Gefahren, in einen Strudel der Entmenschlichung gezogen zu werden, der
seine Energie aus Egoismen und Machtstreben gewinnt. Wenn man so der Fratze entgegentritt, dann hört man nicht selten, man müsse doch wohl noch seine Meinung äußern dürfen. Die Meinungsfreiheit ist tatsächlich ein sehr
hohes Gut, das unverzichtbar Teil unserer Freiheit ist. Aber die grässliche Fratze der Gewalt kann nicht durch die Meinungsfreiheit einen Freiplatz erlangen, von dem aus sie sich propagiert. Selbstverständlich gilt die Meinungsfreiheit, aber schlimmen Meinungen muss um dieser Freiheit willen entgegengetreten werden.

Dummheit kann man nicht verbieten, aber man kann sich ihr entgegenstellen, mit allen Mitteln, die die Freiheit hierzu zur Verfügung stellt. Wenn wir das in der Trauer als Volk und in der Versöhnung über den Gräbern mitnehmen und unsere verstorbenen Mitbürger mit ihrem Opfer uns dies lehren, dann sind wir ein gutes Stück wehrhafter geworden im Angesicht der Gefahren, die in der Welt heraufgezogen sind. Unser Gedenken soll uns befähigen, für eine friedliche Welt einzutreten und Krieg abzulehnen, aber auch Kriegsopfern beizustehen und verteidigungsbereit zu sein, selbst wenn es jetzt kriegstüchtig heißt, weil es sonst keine bessere Welt geben kann.

In diesem Gedenken will ich also im Namen der Leistadter Bevölkerung und als Vorsitzender des Ortsbeirats sowie im Gedenken an die Opfer, die hier verzeichnet sind und die weiteren Opfer, die wir uns hinzudenken müssen, einen Kranz niederlegen und bitte um eine Minute des gemeinsamen Schweigens.

Diese Minute und die Zukunft stelle ich unter den Gruß:
Shalom, Salam, Friede mit Euch

Autor

Anwohner der Hauptstraße in Leistadt. Rechtsanwalt - Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz. Kanzlei in Leistadt. Vorsitzender des Protestantischen Kirchbauverein e.V. Vorsitzender Kerwe-Ausschuss im Jahr 2014. Ortsvorsteher seit Juli 2019

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